OGH zum Lagezuschlag. 5Ob74/17v.

Mit der Entscheidung 5 Ob74/17v hielt der OGH u.a. fest, dass der Umstand eines gegenüber der mietrechtlichen Normwohnung höheren Grundkostenanteils nicht entscheidend ist, ob ein Lagezuschlag gerechtfertigt ist oder nicht. Es bedarf vielmehr einer Prüfung, ob im konkreten Einzelfall die Lage (Wohnumgebung) der Liegenschaft, auf der sich eine Wohnung befindet, nach der allgemeinen Verkehrsauffassung und der Erfahrung des täglichen Lebens besser als die durchschnittliche Lage (Wohnumgebung) ist.

Wenig verwunderlich, dass sich bereits kurz nach Veröffentlichung der Entscheidung namhafte, im wesentlichen der Immobilienbranche zuzurechnende Juristen, meldeten, die die Entscheidung massiv kritisierten und dem OGH gewissermaßen ein Fehlurteil attestierten. Vereinzelt wurde sogar dem Gesetzgeber nahegelegt, eine authentische Interpretation (§ 8 ABGB) zu verabschieden. Dies würde den Gerichten für vergleichbare Fälle quasi vorschreiben, wie sie das seit mehr als 20 Jahren in Geltung stehende Gesetz „richtig“ auszulegen hätten.

Dass die Entscheidung des OGH jedoch ohnedies rechtsdogmatisch richtig ist, erläuterte Michaela Schinnagl, Juristin beim Österreichischen Verband der Gemeinnützigen Bauträger, in ihrem Redebeitrag zu den Österreichischen Wohnrechtstagen im April 2018.

Im folgenden Bericht wird der Beitrag von Mag. Schinnagl zusammengefasst:

  • Telos des Richtwertsystems: Schinnagl wies auf den parlamentarischen Ausschussbericht hin, wonach der Gesetzgeber mit der Einführung des Richtwertsystems eine Dämpfung des gesetzlich zulässigen Mietzinses beabsichtigte.
    Historisch betrachtet sei die Einführung des Richtwertsystems die Reaktion des Gesetzgebers auf die seit Ende der 1980er Jahre zunehmend ausufernden Mieten des angemessenen Mietzinses (§ 16 Abs 1 MRG) gewesen.
  • Nach dem Gesetzteswortlaut sind bei der Berechnung des Richtwertmietzinses  im Vergleich zur mietrechtlichen Normwohnung entsprechende Zuschläge  oder Abstriche vom Richtwert für werterhöhende oder wertvermindernde Abweichungen vom Standard der mietrechtlichen Normwohnung vorzunehmen. Einer jener Umstände, der zu einem Zuschlag oder Abstrich vom Richtwert führen kann, ist die Lage (Wohnumgebung) des Hauses.
  • Ein Lagezuschlag iSd § 16 Abs 2 Z 3 MRG ist (nur) dann zulässig, wenn die Liegenschaft, auf der sich die Wohnung befindet, eine Lage aufweist, die besser als die durchschnittliche Lage ist (§ 2 Abs 3 RichtWG). Zudem müssen die maßgebenden Umstände dem Mieter in Schriftform bis spätestens bei Zustandekommen des Mietvertrages ausdrücklich bekanntgegeben werden.
  • Wenn sich die maßgebliche Liegenschaft in überdurchschnittlicher Lage befindet, hat die Berechnung dergestalt zu erfolgen, dass die in dieser Gegend üblichen Grundpreise für unbebaute, aber für Wohnbauten geeignete Grundstücke und der Umlegung dieser Preise auf die unter Berücksichtigung der Bauvorschriften erzielbaren Wohnnutzflächen, festzustellen ist. Von der Differenz zwischen dem auf diese Weise errechneten und dem der Richtwertfestsetzung zugrunde gelegten Grundkostenanteil bilden 0,33 % den Lagezuschlag bzw. Lageabstrich. Nach Schinnagl bildet diese Berechnungsmethode nicht eine allfällige Obergrenze für den Lagezuschlag, sondern ist dies Ober- und Untergrenze zugleich. Im Unterschied zu allen übrigen nach § 16 Abs 2 MRG wertbestimmenden Umständen sei nämlich für die Ermittlung der Höhe des Lagezuschlags eine ausdrückliche betragliche Festlegung und eine eigene Berechnungsformel gesetzlich normiert worden, sodass sich hier nach Schinnagl kein weiterer Spielraum für die Berechnung des Lagezuschlags ergebe (falls überhaupt überdurchschnittliche Lage vorliegt). Dies stünde überdies in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des OGH.
  • Probleme mit der Berechnung des Lagezuschlags ergeben sich jedoch daraus, dass der Vergleich mit unbebauten Grundstücken insofern schwierig sein kann, als es in vielen Gegenden gar keine unbebauten Grundstücke mehr gibt. Die Residualwertberechnungsmethode ist jedenfalls unzulässig.  Nach Schinnagl könne jedoch aushilfsweise im Rahmen der Vergleichswertmethode auch auf Liegenschaften mit abbruchreifen, wertlosen Gebäuden zurückgegriffen werden.
  • Wann liegt eine überdurchschnittliche Lage vor?
    Schinnagl verwies bei den Wohnrechtstagen darauf, dass sich der OGH bisher mit dieser Frage kaum auseinanderzusetzen hatte und man sich daher auch nicht wundern dürfe, wenn der OGH in seinem ersten Anwendungsfall zu einem für manche ungewünschten Ergebnis gelangte. Historisch ist die späte Auseinandersetzung des OGH mit dieser Frage insofern erklärlich, als sich bisher in Wien die berechneten Lagezuschläge (bei Annahme einer überdurchschnittlichen Lage) ohnedies in einem überschaubaren Ausmaß bewegt hatten und deswegen weder Vermieter noch Mieter die Notwendigkeit gesehen hatten, diese Frage durch eine dritte (rechnet man die Schlichtungsstelle hinzu, sogar vierte) „Instanz“ klären zu lassen. Erst im Zuge des in den letzten Jahren gestiegenen Immobilientransaktionsvolumens und der damit verbundenen Preissteigerungen erhielt die Frage des Lagezuschlags größere Bedeutung.
  • Gründerzeitviertel: Nach § 2 Abs 3 RichtWG ist die Durchschnittlichkeit der Lage nach der allgemeinen Verkehrsauffassung und der Erfahrung des täglichen Lebens zu beurteilen, wobei eine Lage (Wohnumgebung) mit einem überwiegenden Gebäudebestand, der in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet wurde und im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend kleine, mangelhaft ausgestattete Wohnungen (Wohnungen derAusstattungskategorie D) aufgewiesen hat, höchstens als durchschnittlich einzustufen (Gründerzeitviertel) ist.
  • Nachträglicher Wegfall des Kriteriums Gründerzeitviertel: Wenn in einem betroffenen Straßenzug mehr als die Hälfte der Häuser aus der Zeit von 1870 bis 1917 mittlerweile Neubauten gewichen sind, kann auch ein ursprüngliches „Gründerzeitviertel“ zu einer Wohnumgebung werden, auf die die Beschränkung des § 2 Abs 3RichtWG hinsichtlich des Lagezuschlags nicht mehr zutrifft (5 Ob 102/17m, 5 Ob 43/17k,5 Ob 188/14d). Dabei kommt es nicht darauf an, ob einzelne, oder eine überwiegende Anzahl von Wohnungen von Substandard auf Standard umgebaut wurden. Maßgeblich ist nach Schinnagl nur, ob ein ehemaliges Substandardhaus durch Abriss oder Entkernung einem neuen Gebäude gewichen ist. Ob lediglich einzelne Wohnungen aufgewertet wurden, spiele keine Rolle. 
  • Wann liegt in concreto überdurchschnittliche Lage vor?
    Für die Beurteilung sind neben der allgemeinen Verkehrsauffassung und der Erfahrung des täglichen Lebens auch die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele zu berücksichtigen. Bereits früher hatte der OGH klargestellt, dass jegliche Lage außerhalb dieser Gründerzeitviertel nicht automatisch eine überdurchschnittliche Lage indiziert.
  • Die Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich des Vorliegens konkreter wertbestimmender Faktoren der Wohnumgebung, die die Annahme einer überdurchschnittlichen Lage nahelegen, obliegt dem Vermieter.
  • Nach dem OGH ist in Wien als Referenzgebiet für die Beurteilung der Durchschnittlichkeit der Lage eines Hauses nicht regelhaft maximal der jeweilige Gemeindebezirk heranzuziehen, sondern es ist auf jene Teile des Wiener Stadtgebiets abzustellen, die einander nach der Verkehrsauffassung in ihren Bebauungsmerkmalen gleichen und (daher) ein einigermaßen einheitliches Wohngebiet darstellen. Hinsichtlich des Referenzgebietes verwies Schinnagl darauf, dass die Ausführungen des OGH dazu noch einigen Spielraum für künftige präzisierende Judikatur offen lasse. Klar sei aber, dass die von Vermietern bisher geäußerte Rechtsansicht, wonach Überdurchschnittlichkeit bereits dann anzunehmen wäre, wenn außerhalb eines Gründerzeitviertels eine Grundkostendifferenz zwischen der zu beurteilenden Wohnung und des bei Richtwertermittlung herangezogenen Grundkostenanteils vorläge, weder dem Willen des Gesetzgebers entspreche, noch sonst irgendwie dogmatisch gerechtfertigt werden könne.

Man darf gespannt sein, wie es in dieser Frage weitergeht.